Progressive Sicherheitspolitik im Spagat

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Ulrike Franke hat in einem Anfang 2021 erschienenen Meinungsbeitrag, den ich empfehle, eine weitere sehr interessante Frage aufgeworfen: Hat die an den Frieden gewöhnte deutsche Post-1989 Generation verlernt, strategisch zu denken? Ulrike Franke beschreibt, dass wir in Deutschland „geopolitischen Machtkämpfen mit Unverständnis begegnen, Interessenpolitik uns fremd ist, die Idee des Militärischen als geopolitischer Machtfaktor abschreckt“. Viel lieber sähen wir die internationale Welt durch „das Prisma von Freundschaften und Werten“, also die Idee von Wandel durch Handel, die lange unsere China-Politik beeinflusst hat.

Sie hat recht. Und für mich ist diese Frage, die Ulrike Franke hier aufruft, fundamental:

Kann die neue Generation der deutschen Außenpolitiker/Innen den Spagat schaffen, die Welt der Sicherheitspolitik einerseits so zu sehen wie sie ist (eine Welt der konkurrierenden Großmächte, die ihre Interessen auch militärisch verfolgen) und zugleich progressive Vorschläge zu ihrer Verbesserung zu machen?

Können auch progressiv denkende Menschen es sich mit ihrem Gewissen vereinbaren, ganz radikale Forderungen wie die europäische Republik, die sofortige Abschaffung der nuklearen Teilhabe oder die Weltregierung zunächst mal hintanzustellen und in der Zwischenzeit strategisch an Lösungen zu arbeiten, die diesem Ziel zwar dienen, es aber als schrittweisen Prozess begreifen?

Ist Pragmatismus gleich Verrat am Fortschritt?

Mir scheint jedenfalls, dass sich gerade progressive Kräfte oft ungern auf dieses Feld bewegen wollen, weil sie befürchten, damit zu Befürwortern des Status Quo zu werden. Damit geben sie aber auch jegliche Gestaltungsmöglichkeit, sprich: den echten Fortschritt, leichtfertig auf. Und das kann nicht progressiv sein, oder? 

Fortschritt (von lat. prō-gredī  für voranschreiten) hat mit dem (in Deutschland seit dem Schlieffenplan eher unbeliebten) Wort der „Strategie“ zu tun. Denn eines der Kernelemente progressiver Politik ist doch gerade, dass sie Vorschläge macht – und dazu braucht es eben Strategie und die Bereitschaft, in Szenarien zu denken.

Wer aber beispielsweise in das CDU-Papier aus dem März 2021 „Für eine starke, moderne und einsatzbereite Bundeswehr“ schaut, der findet zwar viele gute Vorschläge und Ratschläge an die Bundeswehr – es ist im genannten Papier beispielsweise die Rede davon, die Bundeswehr weiter zu stärken, ihre Durchhaltefähigkeit zu verbessern, sie stärker mit zivilen Institutionen zu vernetzen, die Rüstungsindustrie noch mehr „als Teil der gesamtstaatlichen und europäischen Sicherheitsvorsorge“ verstehen, etc.

Aber im Grunde ist das Papier dominiert von Wunschdenken, nämlich der Hoffnung, dass immer alles so bleiben wird, wie es ist. Zugespitzt formuliert: Die USA sind unser Freund und sie werden es immer sein. Es gibt keinerlei Szenarienplanung, keine Anzeichen einer Reflexion darüber, was passiert, wenn sich transatlantische Beziehungen mal fundamental ändern sollten – oder wenn Marine Le Pen Präsidentin Frankreichs würde. Um nicht missverstanden zu werden: Diese Art von vorausschauendem Denken fehlt ganz bestimmt nicht nur in der CDU. Auch kann man berechtigterweise einwenden, dass solche Szenarienplanung gar nicht die Aufgabe solcher Papiere ist.

Doch dass es auch anders geht, das zeigen französische Weißbücher. Dort wird regelmäßig betont, dass man sich in der Welt der Mächte niemals darauf verlassen sollte, dass Freunde auch Freunde bleiben. Allianzen können sich ändern. Auch das transatlantische Verhältnis kann sich ändern. Die französische Armee-Ministerin Florence Parly schrieb zum Beispiel 2017 ins Weißbuch der Verteidigung: „Wir können uns nicht mehr sicher sein, überall und immer auf unsere traditionellen Partner zählen zu können“. Doch im Grunde hört man Aussagen zur Unverlässlichkeit von Allianzen schon seit Charles de Gaulle. Und für mich ist das Ausbalancieren von Freundschaften mit der Möglichkeit, dass sich diese auch ändern können, ein wichtiger Teil jeglicher progressiver Politik, die nicht im Stillstand verharren möchte. Ist nicht jetzt der Zeitpunkt, darüber nachzudenken, wie Deutschland seine Abhängigkeit von den USA in Zukunft gestalten will? Wollen wir mehr Abhängigkeit, oder weniger? Und ist nicht jetzt der Moment gekommen darüber nachzudenken, wie wir damit umgehen, dass „Wandel durch Handel“ mit China offensichtlich nicht funktioniert hat?

Genau darum soll es in diesem Blog gehen:

Welche Vorschläge kann eine progressive Sicherheitspolitik in Europa meiner Ansicht nach machen, die sich auf dem Boden der Tatsachen bewegt?

Denn ich finde nicht, dass es progressiv ist, sich nur darauf zu konzentrieren, ideale Ziele zu verfolgen. Nicht falsch verstehen: Das muss progressive Politik auch tun, keine Frage – und ich bin ausdrücklich damit einverstanden, wenn beispielsweise Zielsetzungen einer atomwaffenfreien Welt formuliert werden. Aber Maximalforderungen reichen nicht. Denn sonst läuft Politik Gefahr, klug zu dissertieren ohne die Dinge zu ändern. Willy Brandt jedenfalls wurde ja genau dafür angefeindet: Dass er die Oder-Neiße-Linie anerkannte, war ein totaler Tabubruch. Sein Erfolg, der Helsinki-Prozess und die gesamte spätere Entwicklung bis 1989, geben ihm Recht. Die fundamentale Spannung progressiver Sicherheitspolitik ist daher, dass sie die Realität auch ein Stück weit anerkennen muss, weil sie sich nur so verändern lässt.

Progressive Sicherheitspolitik ist immer ein Spagat.

Veröffentlicht am
Kategorisiert in Essays

Von Nicolas_Fesch

Ich habe in Tübingen, Aix-en-Provence und Paris Politikwissenschaft und Geschichte studiert. Meine Promotion befasste sich mit der Intervention in Afghanistan. Dieser Blog möchte zur Debatte um die Zukunft der europäischen Sicherheitsarchitektur beitragen.

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