Die SPD braucht eine positive Erzählung für die Ukraine

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Von vielen Sozialdemokraten konnte man in Diskussionen über den Ukrainekrieg noch vor einigen Wochen hören, Russland dürfe diesen Krieg auf keinen Fall verlieren. Denn eine militärische Niederlage Russlands, so das Argument, wäre eine solche Demütigung für das Regime, dass Putin nur mit der totalen Entfesselung von Gewalt antworten könne. Daher sei es – leider – nötig, sich mit Russland zu verständigen. Erfolgreiche Beispiele für gewaltfreien Widerstand gebe es zudem viele, das Potential „kreativer Lösungen“ des gewaltlosen Widerstands sei längst nicht erschöpft. Und auch wenn all dies zunächst zulasten der ukrainischen Souveränität ginge, sei es allzumal schlauer als die gegenwärtige „militarisierte“ Antwort des Westens, die in die Katastrophe führe.

Solche Argumente zeigen zwei Dinge: Erstens verdeutlichen sie, dass Putins atomare Einschüchterungsstrategie funktioniert. Seine nuklearen Erpressungen und sein raubritterisches Vorgehen in Saporischschja sollen schließlich bezwecken, dass Europas Bevölkerungen ihren Regierungen die Unterstützung der Ukraine verweigern – aus Angst vor Putin.

Zweitens verdeutlichen sie, dass in der SPD dringend positive Argumente und Erzählungen benötigt werden, um die Ukraine zu unterstützen. Die Grünen fanden ihre Argumentationslinie sehr rasch – vereinfacht gesprochen reichte es aus, dass Marieluise Beck und Anton Hofreiter nach den Morden von Butscha den Schutz des Individuums vor staatlicher Gewalt bemühten. Bei der SPD hingegen stellt sich auch sechs Monate nach Kriegsbeginn noch die Frage, mit welcher Erzählung eine entschlossene Unterstützung begründet werden soll.

Hier sind drei Vorschläge:

Erstens, antikolonialer Widerstand. Schon im 19. Jahrhundert kamen viele kritische Stimmen zum europäischen Kolonialismus aus der SPD. Und schon seit zehn Jahren setzt sich die SPD dafür ein, dass der Vernichtungskrieg in Namibia von 1904 bis 1908 als „Kriegsverbrechen und Völkermord“ bezeichnet wird. Nun wäre es angemessen, der breiten Öffentlichkeit zu erklären, dass die Ukraine sich seit langer Zeit ebenso in einem Kampf gegen koloniale Besitzansprüche befindet. Belege lassen sich viele zitieren: So zum Beispiel der Militärvertrag von 1654, den die zaristische Seite als Unterwerfungsvertrag interpretierte, während viele ukrainische Kosaken ihn als Vertrag zwischen Ebenbürtigen sahen. Ein anderes Beispiel ist das Sprachdekret des russischen Innenministers Pjotr Walujew, der im Jahr 1863 die Existenz einer eigenen ukrainischen Sprache negierte, sodass das Ukrainische aus Universitäten, Schulen, Gerichten und Kirchen verschwand. Der heutige Krieg wird von vielen als die neueste Episode eines Freiheitskampfes gewertet, der schon viele Jahrhunderte dauert. Wieso nur fällt es der SPD so schwer, Kolonialismus zu erkennen, der nicht in Afrika geschieht?

Zweitens, „Wehret den Anfängen“. Natürlich ist Putin nicht Hitler und so nachvollziehbar es ist, seine Herrschaft im politischen Kampf als „faschistisch“ zu bezeichnen, so unsauber ist das aus wissenschaftlicher Perspektive. Es reicht aber, auf die vielen Gemeinsamkeiten mit dem Faschismus hinzuweisen, wie die Historikerin Anne Applebaum und viele andere es seit Langem tun. Denn in Putins Russland läuft unbestreitbar ein Prozess, bei dem ähnlich wie unter Hitler rivalisierende Machtzentren der Politik (Beispiel Nawalny) und der Wirtschaft (Beispiel Yukos-Gründer Michail Chodorkowski) entmachtet wurden, in der das Denken gleichgeschaltet ist, in der ein Personenkult entfacht wurde, der sich auf Geschichtsklitterung und Gewaltverherrlichung stützt (Beispiel Stalin-Verehrung) und in der die Zivilgesellschaft geknebelt ist. Und da Putin nachweislich viele rechtsradikale, hypernationalistische Bewegungen in Europa unterstützt, ist es legitim, diesen Krieg zu unterstützen, weil es zu verhindern gilt, dass diese Ideologie sich in Europa immer weiter ausbreitet.

Drittens, Europa. Europa braucht linke Parteien, weil die durch ihre Verwurzelung in der internationalen Arbeiterbewegung immer schon gut darin waren, Empathie für die Erzählungen anderer Völker aufzubringen. Das galt beispielsweise für den Widerstand gegen die völlig überzogene Sparpolitik, welche Griechenland auferlegt wurde. Verständnis für die Situation unserer osteuropäischen Freunde tut dringend Not, und das sollte nach dem Nord-Stream 2-Debakel ganz besonders für all diejenigen gelten, die einseitig blindes « Verständnis » für Russland aufgebracht haben. Das Haus Europa aufzubauen kann gelingen, aber es gelingt nur, wenn Verständnis für polnische oder baltische Positionen nicht als skandalöses Einschwenken auf einen angeblich militarisierten osteuropäischen Blick interpretiert wird. Denn auch die Balten wissen vom russischen Kolonialismus ein Wörtchen zu erzählen und es wird Zeit, dass sich unter deutschen Linken die Erkenntnis einen Weg bahnt, dass Deutschland zu lange arrogant gegenüber seinen osteuropäischen Freunden war.

Zusammengefasst: Der Aufruf „Die Waffen müssen schweigen“, den viele SPD-Abgeordnete Ende August unterzeichnet haben, zeigt, wie viel Arbeit noch zu tun sein wird (auch wenn die Jusos sich kritisch geäußert haben). Doch es gibt ein großes Angebot an Erzählungen, die an die historischen Traditionen und Kämpfe der Sozialdemokratie in Deutschland anknüpfen, und die nun mobilisiert werden können.

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Von Nicolas_Fesch

Ich habe in Tübingen, Aix-en-Provence und Paris Politikwissenschaft und Geschichte studiert. Meine Promotion befasste sich mit der Intervention in Afghanistan. Dieser Blog möchte zur Debatte um die Zukunft der europäischen Sicherheitsarchitektur beitragen.

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